Samstag, 5. Dezember 2015

„Wenn mein Mond deine Sonne wäre“ von Andreas Steinhöfel

Diese Seite ist umgezogen.
Die Besprechung des Buches findet sich jetzt auf www.lesetraeumchen.de, zusammen mit vielen Fotos der Liveaufführungen. :)

 

 ........................................................................................

Wenn sich Frühling und Herbst im Sommer treffen

Buch mit Hörbuch-CD und Musik | Mit Illustrationen von Nele Palmtag und 
Musik vom SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Wenn ich auf meinem Blog über ein Buch schreibe, dann nicht, weil ich mir etwa anmaßen würde, die Geschichte nach irgendeinem Maßstab bewerten oder Punkte für Technik und Anmut der Ausführung verteilen zu können.
Es geht ausschließlich darum, was eine Geschichte mit mir macht. Das möchte ich einfangen und teilen. Und „Wenn mein Mond deine Sonne wäre“ macht ganz viel und ganz Schönes – allein schon der Titel! Also fangen wir an.

Darum geht es:

Max liebt seinen Opa über alles und Opa liebt Max genauso sehr.
Die Sehnsucht, behaupteten sie, wohne im Herzen, aber Max wusste es besser: Sein Körper bestand aus Milliarden winziger Zellen, und da jede einzelne dieser Zellen ihm wehtat, konnte das nur bedeuten, dass die Sehnsucht überall in ihm wohnte … und falls seine Seele ebenfalls aus Zellen bestand, dann, bitte sehr: wohnte die Sehnsucht eben auch dort, denn sie erfüllte ihn überall und ganz. Kein Herz allein hatte Platz für so viel Sehnsucht. (Seite 8)
Dass die beiden sich nicht mehr so oft sehen können wie früher – und weswegen Max solche Sehnsucht hat – liegt daran, dass Opa in ein Seniorenheim ziehen musste. „Das große Vergessen“ (Gedenkmoment für "die geliebte Hannah" aus „Rico, Oskar und das Herzgebreche“) kommt langsam über ihn. Opa selbst sagt über seine Mitbewohner: „Die haben nicht mehr alle Murmeln im Schälchen. Genau wie ich!“
Edit: Was ich erst später zusammengebracht habe: Das Bild mit den Murmeln im Schälchen entspringt mutmaßlich der englischen Redewendung „to have lost one's marbles" – was extrem viel charmanter klingt als nicht mehr alle Tassen im Schrank haben" im Deutschen.  

Ein Jahr lang hält Max, inzwischen neun Jahre alt geworden, das Getrenntsein irgendwie aus, aber dann wird das Vermissen zu gewaltig. Und die Sorge, dass Opa sich eines Tages nicht mehr daran erinnern könnte, wie sehr er Max liebt. Zu wertvoll ist diese enge Verbindung für das vaterlose Einzelkind Max; auf keinen Fall kann er die Liebe des Großvaters entbehren.

Und so beschließt er an einem schönen Sommertag, seinen Opa aus dem Heim zu holen und ihm ein paar Stunden an einem speziellen Ort zu schenken, der unzählige Erinnerungen aus den vergangenen Jahrzehnten birgt. Max‘ Plan ist so einfach wie wirkungsvoll und die liebevolle Entführung gelingt. Begleitet werden die beiden von Fräulein Schneider, ebenfalls eine Heimbewohnerin, die kurzerhand die Gelegenheit ergreift, dem Eingesperrtsein zu entkommen. Ihre größte Sehnsucht: „Zur Sonne!“

Da ist sie bei Max und seinem Opa genau richtig, denn die gemächliche Flucht per Bus bringt die drei an den Stadtrand zu einer sonnigen Blumenwiese, einer ganz besonderen: Dort hat Opa einst Max‘ (künftiger) Oma den Heiratsantrag gemacht.
Es gibt – Kinder wissen das, und manche Erwachsene – magische Orte auf der Welt. Orte, an denen ein Zauber wirkt, die Kraft ausstrahlen, weit und tief ins Denken und Fühlen von uns Menschen hinein. (Seite 40)
Ein paar traumhaft schöne Stunden auf der Sommerwiese verzaubern Opa, Max und auch Fräulein Schneider, die wieder zum Mädchen wird und – erst etwas eingerostet, dann leichtfüßig – ihre große Liebe wiederentdeckt: das Tanzen.
Fräulein Schneider zuzusehen war, als würde man der Sonne dabei zusehen, wie sie sich über die Erde verschüttete. (Seite 52)
Soviel zum Inhalt. Wie die Geschichte weiter- und ausgeht und was es eigentlich mit Sonne und Mond auf sich hat – lest selbst!



Lese(t)räumchen meint:

Das perfekte Lese(t)räumchen-Buch! Wärmend wie ein geschütztes sonniges Plätzchen an einem windigen Tag oder – jetzt im Dezember – wie die Lieblingskuscheldecke, während draußen Schnee fällt.

Mein erster Gedanke beim und nach dem Lesen war: Diese Geschichte macht glücklich und ein bisschen traurig und auf jeden Fall melankomisch (eine Wortschöpfung von Rico).

Glücklich macht der unglaublich liebevolle Kern der Geschichte, die feinen Schilderungen kleiner, zarter Momente, die wunderschöne Sprache. Das alles erzeugt beim Leser – wie beim Großvater – „Ein Grinsen, so breit wie die Niagarafälle“ (Seite 64) und vor allem ein ganz warmes Gefühl.

Traurig macht Max‘ Angst um Opa und das Wissen, dass er ihm zwar schöne Momente schenken kann, sich große Vergessen aber nicht aufhalten lässt und auch nicht das Altern.

Und wenn sich glücklich und traurig mischen, wird einem eben melankomisch ums Herz.

So entstehen beim Lesen guter Geschichten intensive Gefühle. Denn geschrieben ist die Geschichte ganz unsentimental und es gibt viele süße, witzige Stellen. Der Großvater hat einen trockenen Humor, Fräulein Schneider ist schön skurril (und „Spindeldürr, der Körper so kantig, als wäre er aus unsauber gesägten Brettern zusammengesetzt, spinnwebfeine Haare …“  Seite 20) und Max ist einfach … maxig. Alles das verdichtet sich zu einer berührenden und intensiven Mischung.

Als Beweis für das Unsentimentale – if needed – hier der großartige Dialog zwischen Max und Opa, direkt vor der Entführung (Seite 24):
„Wer bist du?“
„Der Weihnachtsmann“, sagte Max. 

„Blödsinn“, schnappte der Großvater. „Du bist mein Enkel.“
„Max.“
„Genau.“ Er blickte Max über die Schulter. „Wo ist deine Mutter?“
„Arbeit.“
„Vater?“
„Wo der Pfeffer wächst.“
„Ach ja, richtig. Und schade um den Pfeffer.“

In meinen ersten Notizen zum Buch habe ich geschrieben: „kindlich und altersweise zugleich“ und „leichtfüßig erzählt und doch so tief wie der Ozean“. Das lasse ich mal so stehen, auch wenn es wirklich arg pathetisch daherkommt. Aber erste Impulse gehören gehört. Rico würde jetzt bestimmt „Mann, Mann, Mann!“ schnauben und Max „Junge, Junge, Junge!“ brummeln. ;)

„Wenn mein Mond deine Sonne wäre“ ist zwar eine Geschichte über ein Kind, aber angesprochen davon werden sich wohl auch – oder am meisten – die (ziemlich) großen Kinder fühlen. Wie auch zuletzt bei „Anders“. Und natürlich ist auch die Rico-/Oskar-Trilogie so sehr viel mehr als eine Kinderkrimi-Reihe.

Seinem Grundsatz, Kinder ernst zu nehmen und sie zu fordern treubleibend, verweigert sich Andreas Steinhöfel gewohnt standhaft auch hier allzu einfacher Sprache und zwanghaft kurzer (weil angeblich kindgerechter) Sätze, ganz gemäß seiner Überzeugung, es sei noch kein Kind an einem Nebensatz gestorben. Nein – zumindest nicht, wenn es so schöne Nebensätze sind! Wie viele davon allein in dem einen Satz enthalten sind, der – yes!! – über eine ganze Seite geht! Minus einer kleinen Illu, plus 2 ½ Zeilen auf der Seite davor. Herrlich!

Und wie ich gerade schreiben will, dass in diesem Buch der Autor auch als Erzähler fungiert und direkt in die Handlung einführt und dass das ja schön Kästner-esk sei, fällt mir auf, dass der Einstieg in „Wenn mein Mond deine Sonne wäre“ aufgebaut ist wie der von Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“. Ihr wisst schon, das legendäre: „Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl am Bühlsee? Nein? Nicht?“
Ich tippe auf liebevolle Hommage und bin gespannt, ob sich das demnächst verifizieren lässt.
Update: Ja, Treffer! :)  
Edit: Dass es in einem Haus (hier im Altersheim) brummt wie in einem Bienenstock, kommt auch im Lottchen" vor; dort im Kinderheim. Zuerst dachte ich dabei ans Gesumme bei den grauen Hummeln in Rico, Oskar und das Herzgebreche". Hier wie da ein so schönes Bild, dass in einem Gebäude das Leben brummelt und summt, das junge wie das alte.

Es hat auf jeden Fall eine Bedeutung, denn es steht bei Andreas Steinhöfel immer das richtige Wort an der richtigen Stelle, wohl überlegt, sorgsam durchkomponiert (der Begriff hat im Zusammenhang mit diesem Buch noch eine weitere Bedeutung; kommt gleich!), sodass am Ende nicht nur die Geschichte genau so ist, wie sie sein soll – sie hat auch einen Rhythmus. Den spürt man immer. Wenn nicht schon während des eigenen Lesens, dann doch bei den Lesungen des Autors, die es zu vielen seiner Bücher auf CD gibt. Wobei er sich bei dieser hier, wie ich finde, selbst übertroffen hat, was die mit großer Wärme in der Stimme vermittelte Empathie für die Figuren und ihr Handeln angeht.

Dem Buch „Wenn mein Mond deine Sonne wäre“ liegt die Lesung sogar schon bei. Und das führt dann zum nächsten Aspekt, der dieses Gesamtwerk so bemerkenswert macht: Auf der CD ist auch Musik!

Zwischen die einzelnen Kapitel der Lesung hüpft sie: „Ein Sommertag“ von Sergej Prokofjew und „Jeux d’enfants“ von Georges Bizet, gespielt vom SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Die Kombination von Musik und geschriebener Geschichte ist ganz wundervoll und magisch. Wenn ich mehr Ahnung von klassischer Musik hätte, würde ich mehr als nur diesen einen mickrigen Satz dazu schreiben … sie ist auf jeden Fall einfach wunderschön.

Und dann sind da natürlich auch noch die Illustrationen! Das ganze Buch ist durchzogen von den zauberhaften Zeichnungen von Nele Palmtag. Viele kleine und viele ganz große, die doppelseitig angelegt sind und ganze Welten erschaffen, in die man beim Betrachten eintauchen kann. Das Betrachten wiederum ist mit der Musik verknüpft. Denn jeder doppelseitigen Illustration ist eines der Musikstücke zugeordnet und dessen Titel (und Tracknummer auf der CD) wird am Bildrand erwähnt.

Es macht großen Spaß, die Bilder sehr genau anzuschauen, denn es gibt unendlich viel zu entdecken. Meine persönlichen Lieblinge sind – neben dem Titelbild – die Illus auf den Seiten 26/27, 38/39 sowie 46/47. Da geht mir das Herz auf.

Wie das Konzept und schließlich das Gesamtwerk mit all den unterschiedlichen Beteiligten entstanden ist, könnt ihr direkt auf dem Blog von Andreas Steinhöfel nachlesen, nämlich genau hier! Und es gibt die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Autor und Illustratorin auf Youtube. Ein Teil davon ist auch hinten im Buch abgedruckt. Für beides gilt: sehr, sehr interessant, hinter die Kulissen schauen zu dürfen!

Es lässt sich also in sehr vielen Kombination lesen, gucken, hören: selber lesen, vom Autor vorlesen lassen, vorlesen lassen und selbst mitlesen. Ausschließlich Bilder anschauen. Bilder mit Musik anschauen. Nur Musik hören. Jede Variante bringt neue Entdeckungen, das ist mal sicher, wenn drei Kunstformen zusammenkommen und sich so perfekt vereinigen.

Wer sich darauf einlässt, wird hoffentlich ebenso beglückt sein wie ich. Und wie ich jetzt gerade diesen Satz tippe, lacht die Sonne durchs Fenster! Zum ersten Mal seit – gefühlt – Wochen! Da rufe ich einfach mal mit Fräulein Schneider „Zur Sonne!“ und freue mich über das Zeichen. :)

Und noch kurz zur Ebene der (Nicht-)Erinnerungen, um die es ja eigentlich geht. Gleich auf der ersten Seite macht Andreas Steinhöfel die Bedeutung von Erinnerungen deutlich: Ja, auch der Leser und selbst der doch noch so junge Max erinnern sich nicht an alles, siehste mal. Das große Vergessen gibt es auch in klein; es ist nicht nur eine Alterserscheinung. Und: Man braucht keine so große Angst vor dem Vergessen zu haben, wenn man von Herzen geliebt wird.

Mögen Max und sein Opa noch viele schöne Momente haben. Und mag Fräulein Schneider noch viele Tänzchen wagen, gerne auch mit Opa.

Was ich auch noch aufgeschrieben hatte, gleich nach dem ersten Lesen, war folgendes Fazit:
„Eine Geschichte, zart und schön und stark wie eine Sommerwiesenblume.“
Genau.
Und kein bisschen trompetig.

Zum Abschluss noch ein Zitat von Seite 36:
Hinter dem Vordersitz stieg die Zwitscherstimme von Fräulein Schneider auf. „Ich wette, Sie sind ein guter Küsser.“
„Wenn ich Sie knutsche“, gab der Großvater zurück, „dann hören Sie die Engel singen!“
Bei einem guten Buch im besten Fall auch.
*schmatz*


Steckbrief

Buch mit Hörbuch-CD und Musik 
Umfang: 84 Seiten
Preis: 16,99 €
Verlag: Carlsen mit SWR Young CLASSIX
Erscheinungsdatum: 27.11.2015

Alle Illustrationen: Nele Palmtag 

Und da war noch was ... :)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen